Eigentlich war es Liebe auf den ersten Blick, als ich im Herbst 1957 auf der Rückreise von Köln in meine Heimatstadt Berlin „eben einmal“ in Braunschweig Station machte, um mir die vakante Organistenstelle an St. Katharinen anzusehen.
Bei der Begrüßung erklärte mir jedoch der damalige Pastor Stange, daß die Würfel der Besetzungsfrage fast gefallen seien, aber man könne mich ja immerhin noch anhören. Eine ad hoc zusammengerufene Jury und ein kleiner Chor boten sich dann als Partner für die Abgabe meiner musikalischen Visitenkarte.
Alles Weitere war eine Frage der Zeit, genauer: der „Stangeschen Zeitrechnung“.
Im Geschwindmarsch wurden Status-, Wohnungs- und ähnliche Fragen gelöst und am 6. Januar 1958 spielte der neue Organist die erste „Epiphanias-Orgelmusik“ auf der gerade wiederhergestellen großen Fritzscheorgel. Für die Presse blieb er für etwa 10 Jahre der „junge Kantor“ – innerhalb der Gemeinde betitelten ihn die Freunde als „Kantorchen“.
Es kam die Zeit der Bewährung an der ersten großen Stelle, denn die 4jährige Tätigkeit an einer der alten Berliner Dorfkirchen hatte noch nicht in dem Maße den Musiker gefordert, der nun hier in Braunschweig zeigen sollte, welche Spuren die Hochschulausbildung hinterlassen hatte. Erste behutsame Schritte in der Chorarbeit führten zur Bewältigung kleinerer Motetten und Kantaten, bis die erste Aufführung des bachschen Weihnachtsoratoriums gewagt werden konnte. Der Start schien gelungen, denn das Studium mit der inzwischen immer stabiler werdenden Kantorei erbrachte in den folgenden Jahren den überwiegenden Teil der klassischen Motetten-, Kantaten-, Oratorien-, Messen- und Passionsliteratur. In Gemeinde-, Rundfunk-, Fernsehgottesdiensten, in Krankenhäusern und übergemeindlichen Veranstaltungen fand sich stets eine einsatzfreudige Sängerschar bereit, die Kräfte der Musica sacra in den Dienst von Schöpfer und Geschöpf zu stellen. Diese Aktivitäten konnten sich nur auf einem besonderen Hintergrund entwickeln: Jede musikalisch-künstlerische Tätigkeit benötigt ihren Freiraum, um zur vollen Entfaltung zu gelangen. Die Pastoren und der Kirchenvorstand der St. Katharinengemeinde haben ihrem Kantor diese Freiheit stets uneingeschränkt zugestanden. Sie nahmen dafür manches Opfer auf sich und brachten darin zum Ausdruck, dass die Kirchenmusik neben dem gesprochenen Wort der Predigt eine ebenbürtige Stellung einzunehmen habe. Probst Stange hat rückblickend in seiner Abschiedsrede den Kantor als seinen „Kontextor“ apostophiert. Knapper und treffender hätte auch meine innere Einstellung zu meinem Tun nicht formuliert werden können
So danke ich allen, die mir auf meinem 18jährigen Weg singend, redend und handelnd zur Seite standen, die mich menschlich, musikalisch und theologisch weiter formten und bildeten, die den Meinen und mir Freunde wurden.
Im Jahr 1976 meinte ich, ein Kapitel kirchenmusikalischer Entwicklung abgeschlossen zu haben. Darüber hinaus setzte mir mein Lebensalter ein deutliches Zeichen für die Übernahme einer leitenden Position an der Kirchenmusikschule Herford.
Der Abschied war schmerzlich – in alledem wusste ich aber die Kirchenmusik an St. Katharinen bei meinem Nachfolger Dieter Kroeker in den besten Händen.
Prof. Uwe Karsten Groß